An der Weingartenschule Kriftel geht Physik auch anders
Physik hatte schon immer schwer zu kämpfen. Eine Menge Vorurteile haben sich da im Laufe der Jahrzehnte aufgetürmt. Früher waren Physiker eine eher kleine Randgruppe in der Gesellschaft: Forschende, die wissenschaftlichen Dogmen kritisch gegenüberstanden und vieles hinterfragten. Von Galileo Galilei über den Atomphysiker Robert Oppenheimer bis hin zu Albert Einstein – Physiker waren oft unbequem und wurden abgestempelt. Als soziale Randfiguren, die sich seltsam unangepasst verhielten. Man denke nur an das berühmte Foto von Einstein, auf dem er seinem Gegenüber frech die Zunge herausstreckt. Oder an das Theaterstück „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt, der seine Protagonisten in eine Irrenanstalt verfrachtete.
Es galt also, mit Klischees aufzuräumen. Wie etwa, Physik sei nichts für Mädchen, das Fach sei so schwer, das könnten doch nur Hochbegabte. Oder Physik sei nichts für kreative Menschen und enge die Phantasie ein.
Dass Physik auch anders geht, zeigt die G8a von Physiklehrer Herrn Silvestri an einem Montag in der dritten Stunde an der Weingartenschule. Diesmal ist im Rahmen der MINT-Förderung auch jemand dabei, der nicht zu den genannten Klischees passt: die Doktorantin Laura Sührig. Sie forscht an der Universität Frankfurt zu den Themen Inklusion im Physikunterricht und Experimentieren im Physikunterricht und sie wird bei dieser Unterrichtseinheit die Experimente begleiten. Nach einer freundlichen Begrüßung der beiden Lehrkräfte geht es los. Auf das Kommando von Silvestri: „Auf in´s Physiklabor!“, sprintet die G8a johlend los.
Fast so, als würde es eine Belohnung im Nebenraum geben. In der Tat warten dort fünf verschiedene Experimentierstationen auf die jungen Forscherinnen und Forscher. An der ersten Station geht es um das haptische und freie Erforschen der Aquakugeln. Am Tablet werden sie anschließend mithilfe einer App untersucht und man beobachtet, unter welchen Bedingungen sich Lichtstrahlen brechen. In einem interaktiven Video wird das Material eines Stabes bestimmt, dann verschwindet ein Glasstab in einem Realexperiment mit Glycerin. Zum Schluss wird ganz kreativ eine durchsichtige schleimige Substanz hergestellt. Mit Aquakugeln könne man toll experimentieren und sensorische Spiele machen, erklärt Silvestri und zeigt den Schülerinnen und Schülern, wie die Kugeln unsichtbar werden. Und tatsächlich, waren sie eben noch in 3D da, sind sie plötzlich in einem großen Wasserglas verschwunden.
Herr Silvestri fragt in die Runde: „Wie kann das sein, warum werden die Kugeln unsichtbar?“ Jetzt wird´s wissenschaftlich getreu dem empirischen Motto: Beobachten – Beschreiben – Vermuten – Erklären. Eifrig stellen die jungen Forscher Hypothesen auf. Sie werden an die Tafel geschrieben. „Die Kugeln sind chemisch betrachtet H2O. Die Hülle ist ein Gel“, vermutet Rafael. Elira glaubt: „Die Kugeln haben eine ähnliche Dichte wie Wasser“. Florin gibt zu bedenken: Wenn die Kugeln im Wasser sind, bricht sich das Licht drum herum. Die Kugeln reflektieren das Licht.“ Nicht schlecht gedacht.
Denn was aussieht wie ein Trick, ist reine Physik – diesmal Lichtbrechung. Da die mit Wasser vollgesogenen Gelperlen nämlich fast nur aus Wasser bestehen, haben sie auch fast denselben Brechungsindex wie Wasser. In der Luft sehen sie aus wie Glaskugeln, im Wasser erscheinen sie dadurch unsichtbar.
Das mutet fast magisch an, wie Elira findet: „Die Experimente in Physik und vor allem die Ergebnisse faszinieren einfach“, fasst sie die Stunde zusammen. Da zeige sich, wie wichtig „freies Experimentieren“ für die Jugendlichen ist, schlussfolgert Doktorantin Sührig. Neugierig sind sie alle.
Jeder Schüler muss ein Ergebnisblatt ausfüllen und seine Beobachtungen aufschreiben oder zeichnen. Alle sind eifrig dabei. Das macht sichtlich Spaß.
Fabian und Yannik bringen es auf den Punkt: „Physik ist einfach interessant, weil es kein Nullachtfünfzehn-Unterricht ist.“ Besonders gefällt der selbst hergestellte Schleim. Mit dem lässt sich nämlich vorzüglich spielen. Aus Bastelkleber, Natron und Kontaktlinsenflüssigkeit zusammengerührt, hat er eine glibbrige Konsistenz und ist fast durchsichtig. „Das freie Arbeiten finde ich klasse“, unterstreicht Eva.
Das Spannende sei auch die Gruppenarbeit, sind sich die vier Mädchen Joo Jin, Theresa, Juli und Smilla einig und ziehen eifrig an ihrem Slime, wie sie ihr wissenschaftliches Erzeugnis nennen. Schülerin Natalie liebt das Fach und dabei ganz besonders das Experimentieren. Ihre Freundin ergänzt verschmitzt. „Liegt aber auch am Lehrer.“
Der kommt noch einmal auf die gängigen Vorurteile gegenüber dem Fach zurück. Gerne genommen werde ja das Klischee, Physik sei nur etwas für Nerds und Brains, also eher für hochbegabte Spinner. „Völliger Quatsch“, betont Herr Silvestri energisch. „An diesen Projekttagen haben wir den Kindern mit einfachen Materialien verdeutlicht, dass man lediglich den Verstand öffnen muss und sich dabei aller Sinne bedienen kann, um zu erkennen, dass die Naturwissenschaften uns zu jeder Zeit und an jedem Ort umgeben.“
Diese Haltung teilt auch Laura Sührig. „Veränderung von Schülervorstellungen durch Experimentierstationen im inklusiven Optikunterricht“, lautet der Titel ihrer wissenschaftlichen Hausarbeit. „Es gibt viele Mittel und Methoden, Fachinhalte zu vermitteln. Meiner Überzeugung nach sollten die Jugendlichen auch mitbestimmen dürfen, wie sie lernen wollen“. Ihnen eine Auswahl an Experimenten zur Verfügung zu stellen, helfe da ungemein, weiß die Doktorantin aus Erfahrung. Der ideale Physikunterricht sei eben ein Physikunterricht für alle.
So sei Physik eben auch etwas für Kreative, für Frauen, für die Praxis und für Leute, die gern im Team arbeiten. Und hochbegabt müsse man auch nicht sein, um dieses Fach zu studieren, lautet das Resüme von Herrn Silvestri.
Im Physikraum hängt ein Plakat der Deutschen Physikalischen Gesellschaft.
Die Überschrift lautet: Physik macht Spaß und ist überall. Das haben die jungen Forscher in der wissenschaftlichen Unterrichtsreihe heute wieder einmal unter Beweis gestellt. Zum Schluss der Stunde wird in derG8a abgestimmt. Die Schüler dürfen jetzt dem Fach eine Note geben. Die Tendenz ist eindeutig: Zwei Drittel der Klasse benotet Physik mit der Note 1 bis 2. Die Mädchen in der Überzahl.
MINT macht’s möglich
Die Auszeichnung „MINT-freundliche Schule” bekam die Weingartenschule verliehen, weil sie einen umfassenden Schwerpunkt in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik gesetzt hat. Das MINT-Qualitätssiegel wird von der Initiative „MINT-Zukunft schaffen“ vergeben, steht unter der Schirmherrschaft des Bundeskanzlers und der Kultusministerkonferenz (KMK) und genießt hohe Anerkennung bei Hochschulen und in der Wirtschaftswelt.
Die sechs MINT-Fächer Mathematik, Physik, Biologie, Chemie, Informatik und Technik haben seit vielen Jahren einen besonderen Stellenwert im WGS-Schulprofil, wobei der Schwerpunkt innerhalb dieses Kanons auf den Naturwissenschaften liegt. So gibt es zahlreiche naturwissenschaftliche Angebote, die weit über die Lehrpläne hinausgehen, wie z.B. die Einführung des Faches NaWi (Naturwissenschaften) als Wahlpflichtfach im Realschulzweig mit Unterricht u.a. in Ökologie und Astronomie. Hier bietet sich den Schülerinnen und Schülern u.a. die Möglichkeit, sich mit Weltraummissionen auseinanderzusetzen. In den 9. und 10. Klassen steht dann die Laborarbeit im Vordergrund mit besonderen Experimentiertagen im Chemie- und im Physikunterricht. Diese Experimentiertage werden z.T. auch in externen Laboren oder in Kooperation mit wissenschaftlichen Schulen durchgeführt.