Das moralische Urteil der jungen Zuhörer über die Machenschaften der handelnden Personen fällt eindeutig aus: „Wir sind schockiert, wie es da so zuging“, meint eine Schülerin der 9. Klasse. Stellvertretend für viele der rund 170 Schülerinnen und Schüler, die sich in der Aula der Weingartenschule in der 3. und 4. Stunde versammelt haben. Andere werden auf Nachfrage deutlicher:
„Jeder von denen hatte eine Menge Probleme“, „verdammt viel Verrat“, „jeder gegen jeden, trotzdem wurden sie vergöttert“, „der hat die Nichte geheiratet und die Mutter ermordet!“, so oder ähnlich lauten manche empörten Aussagen. Dabei ging es nicht etwa um eine Seifenoper im Privatfernsehen, sondern um gute Zeiten, schlechte Zeiten der römischen Kaiser an diesem Vormittag. Oder besser gesagt, um ihre guten und schlechten Seiten. Über 45 Imperatoren gab es. Eine stattliche Anzahl. Wenn man Mario Becker, ehemaliger Museumspädagoge der Saalburg und Dozent für Geschichte und Archäologie an der Uni Frankfurt, Glauben schenkt, dann hatte jeder einzelne von ihnen etwa genauso viele Macken und psychische Defekte. Darum ging es in spannenden 90 Minuten in der Aula der Schule. Kein normaler Unterricht, sondern ein Einblick in eine versunkene Welt, die aber doch auf seltsame Art und Weise bis in unsere Neuzeit Einfluss nimmt.
Gymnasialzweigleiterin Nicola van de Loo hatte vorher verheißungsvolle Andeutungen gemacht und einen ungewöhnlichen Vortrag über die Kaiser und
(Un-)Kultur der alten Römer für diesen Mittwoch im Februar angekündigt. Als anschauliche Kulisse für Dozent Becker dienten einige Gegenstände und Utensilien auf der Bühne: ein Kettenhemd, ein römischer Gladiatorenhelm, ein Speer, ein Schwert, ein Schild und Stoffballen.
Multi Kulti
Becker – durch das Studium diverser Quellen bestärkt, zu denen auch der römische Geschichtsschreibe Tacitus gehört – kommt schnell und unmissverständlich zur Sache: Die römischen Kaiser hatten „einen Dachschaden und waren schwer gestört“. Aber wie konnten sie über 300 Jahre lang ihr riesiges Imperium ausbauen und verwalten? – so lautet die rhetorische Frage. Da halfen zum Beispiel das Militär und ein einfacher Trick. Überlebende Feinde wurden nicht getötet. Stattdessen wurde Ihnen angeboten, Römer zu werden. Denn Religion, Rasse und Hautfarbe waren den Römern egal. Steuern wurden von den Neubürgern gezahlt und römische Gesetze befolgt. „Dann funktionierte das“, erklärt Becker der staunenden Zuhörerschaft.
Exakt wie ein Joystick
Und die römische Armee. Die hatte zu funktionieren und tat das auch. Bei Asterix eher trotteliges Kanonenfutter für die mit Zaubertrank gestärkten Gallier, waren sie in Wirklichkeit in Disziplin und Schlagkraft unerreicht. So habe ein Zenturio (Anführer einer Hundertschaft) die Massen mit Kommandos bewegt, wie heute die Jugendlichen ihre Computerkrieger mit einem Joystick.
Becker, der sein junges Publikum bestens unterhält, indem er läuft, springt, gestikuliert und Fragen stellt, findet noch weitere Parallelen zur Neuzeit.
So fanden erste Faceliftings auf Münzen und Büsten statt und der eigentlich hässliche und glatzköpfige Caesar bekam so geschönt ein formidables Aussehen mit üppigem Haupthaar. Heute zeigen die mit Fotoshop geschönten Politiker und Prominenten ähnliche Gesichter. Zwei unserer Monate wurden nach römischen Kaisern benannt, Augustus und Julius sind dafür Beispiele.
Latein vereint
Verständigungsschwierigkeiten, wie heute in einem Europa mit 23 verschiedenen Sprachen gab es damals nicht. Alle sprachen Latein. Ein erfolgreicher Bestandteil des römischen Integrationskonzeptes, erläutert Becker. Darüber hinaus fänden sich vier tragende Säulen, die unsere heutige Europäische Union ebenfalls in ihrer Agenda anstrebe: ein Bürgerrecht, eine Währung, eine Amtssprache und die Möglichkeit, innerhalb stabiler Grenzen die Religion auszuüben, die man für sich wünscht.
Becker nimmt seine jungen Zuhörer mit auf eine faszinierende Zeitreise und lässt mit Hilfe seines bilderreichen Vortrags auch die Abgründe der römischen Elite lebendig werden: vom verrückten Kaiser Nero, der seine Mutter ermordete, über den sexsüchtigen Kaiser Caligula, der sein Lieblingspferd zum Senator befördern wollte, bis hin zu dem böswilligen Claudius, der seine 15-jährige Nichte ehelichte, und Messalina, die mit dem halben römischen Senat das Lager teilte – Stoff genug für eine Netflix-Serie auf höchstem Niveau.
Ein Philosoph hilft
Bei seinen Ausführungen steht Becker dabei keine Minute still, schlägt weitere überraschende Verbindungen zu unserer modernen Welt – von Augustus zu Trump, vom Lorbeerkranz zu Napoleon, vom opus caementicium zu unserem Zement, von den Trajansmärkten zu unseren Shoppingmalls, von Cicero zu J.F. Kennedy. Moment mal. Was hatte der charismatische 35. Präsident der Vereinigten Staaten mit Marcus Tullius Cicero zu tun? Mario Becker weiß die Antwort und findet sie in der legendären Rede Kennedys in Berlin 1963. Sein berühmter Ausspruch wurde von Ciceros Rede an den Staat angeregt. Heißt es bei Cicero noch „Civis Romanus sum“ – „Ich bin ein römischer Bürger“ – so lautet Kennedy Bekenntnis „Ich bin ein Berliner“. Ein wichtiger Beitrag zur Verhinderung eines 3. Weltkrieges zwischen Ost und West, betont Becker. Inspiriert von einem Philosophen, nicht von einem „durchgeknallten“ Kaiser.